2 x 23 Zeichen, die auf die Gesundheit wirken

Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) als kommunikative Herausforderung.

Das Gesundheitswesen gilt hinlänglich als hartes Pflaster der Kommunikation. Mir fällt kein weiteres Themengebiet ein, das praktisch jeden Menschen persönlich angeht, aber kaum einer versteht. Das Gesundheitswesen in Deutschland ist eine kommunikative Herausforderung. Hier werden Ärzte, Therapeuten, Psychologen, Hebammen und viele andere weitere Berufsgruppen zu Leistungserbringern. Hier werden Krankenversicherungen zu Kostenträgern. Hier werden von Jahr zu Jahr dickere Gesetzesbücher geschrieben.

Extrem kompliziert wird es, wenn es um die Finanzierung geht. Mit dem Systemwechsel zum wettbewerblichen System der gesetzlichen Krankenkassen wurde ab 1994 der Risikostrukturausgleich eingeführt. Der Risikostrukturausgleich ist aber nur ein Teil der 2 × 23 Zeichen, die uns aktuell in der Gesundheitskommunikation beschäftigen.

Der damalige Bundesgesundheitsminister, Horst Seehofer, soll sinngemäß zur Einführung des Risikostrukturausgleichs gesagt haben, dass nur drei Menschen diesen verstünden, aber er gehöre nicht dazu. Was schon damals als äußerst kompliziertes System galt, ist 2009 für viele Experten zum kommunikativen Harakiri geworden. Mit der Einführung des Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs 2009 nahm die Zahl der Verständigen weiter ab. Es gibt zwar viel mehr Menschen, die inhaltlich mit dem Morbi-RSA zu tun haben, aber es fällt selbst ausgewiesenen Experten immer schwerer, dieses Konstrukt in Gänze zu durchschauen.

Wie gehen die Medien mit dieser Thematik um?

Viele Leser der Publikumsmedien, so die Aussagen einiger Tageszeitungsredakteure, steigen bei dem Thema aus. Die redaktionellen Hemmschwellen, das Thema auf die Ressortseiten zu bringen, sind hoch. "Ich muss ja immer erst einmal mit einem großen Erklärungsabsatz einsteigen, bevor ich zum konkreten Problem kommen kann", klagen die Redakteure. Hörfunkjournalisten berichten, dass der Morbi-RSA schwer in den Äther zu bringen sei, weil das 2 x 23 Zeichen-Wortungetüm die Hörer motivieren würde, den Sender zu wechseln. Und die Fernsehsender? Die trauen sich noch seltener an das Thema Morbi-RSA heran. Es ist gut, dass es immer wieder Redakteure gibt, die vor den 2 x 23 Zeichen nicht zurückschrecken und aufklärende Stücke zum Thema in die Publikumsmedien bringen.

Immerhin, in den Fachmedien wird der Morbi-RSA weitaus häufiger diskutiert. Und auch in den sozialen Medien ist der Morbi-RSA angekommen. Als Twitter Ende 2017 die Anzahl möglicher Zeichen je Tweet von 140 auf 280 verdoppelte, twitterte ein Journalist: "Der Siegeszug des Themas Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich auf Twitter ist eingeleitet #280Zeichen". Was für ein Glück für die Kommunikation!

#fairerfonds

Die Versicherten haben ein Recht darauf zu erfahren, was mit ihren Versicherungsbeiträgen passiert. Und sie wollen eine Antwort darauf bekommen, weshalb die eine Krankenkasse zum Beispiel Zusatzbeiträge erheben muss, während die andere Krankenkasse im Geld schwimmt. Auch die Frage, weshalb die Zahl der Diagnosen von Jahr zu Jahr steigt, will beantwortet werden. Werden die Menschen immer kränker oder ist es doch nur eine Folge des komplexen Morbi-RSA? Dieser Diskussion müssen sich auch Politiker stellen, eine wesentliche Zielgruppe unserer kommunikativen Arbeit.

Auch wenn ich sprachlich die Verdichtung schätze, sind manche Themen es einfach wert, ein paar Zeichen mehr in die Hände zu nehmen. Wir sind es den Versicherten, den Lesern, den Hörern und auch den Zuschauern schuldig, dass wir auch schwierigsten Themen im Gesundheitswesen eine Stimme und den notwendigen Raum geben. Schließlich informieren sich auch die politischen Entscheidungsträger, sprich, unsere Bundestags- und Landtagsabgeordneten, Ministerien und andere über mediale Kanäle. Die Medien sind in vielerlei Hinsicht Impulsgeber im politischen Agenda-Setting.

Es ist wichtig, dass die Medien über diese komplexe Materie berichten

So lohnt es sich also, auch die langen 2 x 23 Zeichen in die Tastatur zu geben, sie zu erklären und Schwachstellen transparent zu machen. Denn im Grunde muss es doch das Ziel sein, dass wir auch bei der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung wieder einen Weg zu den ehrlichen Wurzeln unseres Systems finden und dass alle Versicherten und Entscheidungsträger das Finanzierungssystem verstehen. Die Hoffnung, dass die Finanzierung des Gesundheitswesens dann wieder fairer und die Kommunikation im Gesundheitswesen wieder einfacher wird, ist berechtigt. Die ehrliche Wurzel unseres GKV-Systems hat ja auch einen Namen, der nur 11 Zeichen braucht und mit dem jeder gleich etwas Positives suggeriert: Solidarität!

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