Resilienz und Corona

Vor zehn Jahren noch ein erklärungsbedürftiges Fremdwort, ist „Resilienz“ mittlerweile zum Zauberwort mutiert.

Das elastische Zauberwort

Etymologisch gesehen stammt das Wort vom lateinischen „resilire“ ab, was so viel bedeutet wie „zurückspringen“, „abprallen“. Im übertragenen Sinne beschreibt es die Fähigkeit eines Menschen, sich in Krisensituationen zurechtzufinden und womöglich sogar gestärkt daraus hervorzugehen. Interessanterweise liegt der Schwerpunkt des Wortes nicht auf „Widerstand“ sondern auf „Elastizität“ – die Fähigkeit eines Stoffes, nach einer Verformung durch äußeres Einwirken wieder zur ursprünglichen Form zurückzufinden.

Die goldene Rüstung

Sowohl in der anthroposophischen Medizin (Stichwort „Salutogenese“) als auch in der Waldorfpädagogik (Stichwort „goldene Rüstung“) ist der Begriff „Resilienz“ seit langem bekannt.

Rudolf Steiner beschreibt in einem seiner Vorträge1 eine „goldene Rüstung“, die dem Kind bis zum 10. Lebensjahr mitgegeben werden kann. Im neunten bis zehnten Lebensjahr vollzieht das Kind einen Entwicklungsschritt, durch den es sich als eigenes, der Welt gegenübergestelltes Wesen zu empfinden beginnt – es überschreitet den sogenannten „Rubikon“. Neudeutsch gesagt hieße das, das Kind entwickelt bis zu diesem Zeitpunkt ein eigenes „Standing“.

Es werden verschiedene Faktoren benannt, die zum Aufbau dieser „goldenen Rüstung“, also der Resilienz des Kindes, beitragen können. Als Hauptfaktor wird die feste, dauerhafte Bindung zu einer Bezugsperson genannt, was erstmals durch die „Kauai-Studie“ (Emmi Werner / Ruth Smith, University of California) belegt wurde, die 698 Kinder des Jahrgangs 1955 über 40 Jahre lang auf Hawaii begleitete2. Diese Bezugsperson muss nicht zwingend ein Elternteil sein, es kann beispielsweise auch eine Erzieherin oder ein Erzieher sein, was der Grund ist, dass Waldorfpädagogen ihre Klassen über die gesamte Grundschulzeit hinweg begleiten. Der Aufbau der Resilienz beginnt übrigens im Mutterleib, was von den Ärzten und Geburtshelfern Frédérick Leboyer und Michel Odent postuliert und mittlerweile in zahlreichen Studien zu pränataler epigenetischer Prägung in der Schwangerschaft belegt wurde.

Kohärenzgefühl – was ist für mich stimmig?

Die Verbindung zur Salutogenese wurde von Aaron Antonovsky hergestellt, der 1970 im Zuge einer Studie zur Menopause feststellte, dass 29 % der von ihm untersuchten Frauen, die während der Nazizeit in einem Konzentrationslager inhaftiert waren, sowohl körperlich als auch seelisch als gesund zu bezeichnen waren. Was die Frage aufwarf, welche Eigenschaften und Ressourcen diesen Frauen geholfen hatten, unter den Bedingungen der KZ-Haft sowie in den Jahren danach ihre körperliche und psychische Gesundheit zu erhalten. Dies führte zur Frage nach der Entstehung von Gesundheit – der Frage nach der Salutogenese. Antonovsky postuliert die Existenz generalisierter Widerstandsressourcen und stellt ins Zentrum der Antwort auf die Frage nach der Entstehung von Gesundheit das „Kohärenzgefühl“, eine Art von globaler Orientierung, die die generelle Tendenz eines Menschen beschreibt, die Anforderungen des Lebens als verstehbar, bewältigbar und sinnhaft zu empfinden. Auch Antonovsky geht davon aus, dass das Kohärenzgefühl in der frühen Kindheit, jedoch spätestens bis zum 10. Lebensjahr im familiären Umkreis, vor allem durch Kommunikation und Beziehung, entsteht3.

Alle allein zu Haus

In unserer digitalisierten und globalisierten, zunehmend komplexer werdenden Welt ist es ohnehin schwierig, zumal für Kinder und Heranwachsende, ein Kohärenzgefühl zu entwickeln. In der aktuellen Pandemiesituation empfinden sich viele als durch die Politik fremdgesteuert, wozu die oftmals inkonsistent erscheinenden Maßnahmen noch beitragen.

Die Tatsache, dass eine tragende Säule unserer Gesundheit (ganzheitlich betrachtet), nämlich das In-Beziehung-Sein mit anderen Menschen, plötzlich schädlich sein soll, erzeugt ein Gefühl der Inkohärenz. Ärzte, allen voran Kinderärzte, warnen vor den Spätfolgen, die bei Kindern – anders als bei Erwachsenen - nicht mehr aufgeholt werden können. Auf digitaler Ebene sind Beziehungen nicht erlebbar.

(Siehe dazu https://www.pronovabkk.de/presse/pressemitteilungen/corona-krise-kinder-in-seelischen-noeten.html)

Seelenmuskeltraining

Resiliente Menschen mit einer stabilen inneren und äußeren Rüstung werden besser durch die Krise kommen und auch in der Lage sein, ihre Kinder positiv zu begleiten.

Für alle diejenigen, die sich nicht gerüstet fühlen, gibt es eine gute Nachricht: Resilienz kann auch im Erwachsenenalter noch erlernt werden. In unserem Gesundheitssystem vollzieht sich langsam aber stetig ein Paradigmenwechsel: Weg von der Pathogenese, also der Frage nach der Entstehung von Krankheit, hin zur Salutogenese und damit zum nachhaltigen partizipativen Prozess für die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit. Die Bedeutung der Resilienz in diesem Prozess ist mittlerweile hinlänglich bekannt, weshalb von vielen gesetzlichen Krankenkassen entsprechende Kurse zur Förderung der Resilienz angeboten werden (aktuell natürlich online).

Zur Stärkung der Resilienz bei Kindern und Heranwachsenden fördert der BKK Landesverband Bayern in Zusammenarbeit mit dem Projektträger iSo e.V. seit 2019 das Projekt „BKK Stark³“. In das Projekt werden nicht nur Schülerinnen und Schüler im Alter von 6 bis 14 Jahren eingebunden, sondern auch Lehrkräfte und Erziehungsberechtigte, so dass die Kinder in ein starkes Beziehungsgeflecht eingewoben werden können.

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1 Rudolf Steiner; Idee und Praxis der Waldorfschule; 1919/1920

2 Emmy E. Werner; The children of Kauai: A longitudinal study from the prenatal period to age ten, University of Hawaii Press; 1977

3 Aaron Antonovsky; Health, Stress and Coping; 1979

 

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