TikTok ist schuld!

Neulich beim Kaffeetrinken mit der Familie einer Freundin. Tochter S. (13 Jahre alt) strahlt mich an und sagt „Ich habe jetzt eine Freundin.“ Ich in vollkommener Unschuld sage „Ja, wie schön. Wie heißt sie denn? Kennst du sie aus der Schule?“ Sie setzt nach: „Nein, ich meine eine FREUNDIN.“ Hm. Aha. Ähm. Wie jetzt? Offenbar gucke ich hilflos, denn die Erklärung wird noch einmal ausdrücklich nachgeschoben „Eine RICHTIGE Freundin.“ Es dauert etwas, bis der Groschen runterklickt. „Ah so, eine richtige RICHTIGE Freundin.“ Ich verstehe. S. läuft rosa an. Heidenei, Himmel hilf, ich habe keine Kinder, was sagt man zum Outing einer 13jährigen am Kaffeetisch?

Jetzt auf keinen Fall was falsch machen, sonst Kind traumatisiert fürs Leben, landet in der Gosse, wird drogenabhängig und zieht sich mit 30 in eine Kommune auf La Gomera zurück. Ich fühle mich plötzlich verantwortlich für die glückliche Zukunft der Tochter meiner besten Freundin. Aus dem Augenwinkel schiele ich nach letzterer. Ich sehe, wie sie versucht, Contenance zu bewahren. Die Information scheint für sie nicht neu zu sein. Ok, ich mach mal einen mutigen Versuch, möglichst entspannt auf diese Information zu reagieren, indem ich mich zunächst daran erinnere, was ich zu einer 13jährigen sagen würde, die mir berichtet, dass sie jetzt ihren ersten FREUND (also einen richtigen RICHTIGEN Freund) hat. Mit den üblichen Fragen bringe ich S. zum Kichern und kichere mit. Na geht doch, mach ich doch mit links, was bin ich doch für ‘ne coole Socke von Tante. Nur ganz kurz ist es mir vergönnt, mich im eigenen Hochgefühl zu sonnen, bis das „Kind“ mich vollends verwirrt. Also Händchen halten und kuscheln würde (sie) S. schon mit (ihrer) xieser Freundin, aber nicht mehr, weil (sie) xier sei non-binär und asexuell. Oder eigentlich mehr so aromantisch genderfluid. Mein Hirn blockiert beim Versuch, diese Information zu verarbeiten. Kleinlaut bitte ich um Erklärung der Begriffe. Also non-binär, da würde (man) mensch sich weder als Mann noch als Frau fühlen, oder eben genderfluid, wo das mehr so fließend sei.

Fühlen Sie sich auch gerade uralt und unendlich müde?

Eine Internetrecherche fördert eine mir völlig unbekannte Welt zutage. Als Erste-Hilfe-Maßnahme kann ich die Website 100% Mensch empfehlen, ein Projekt, das seit 2014 die vollständige rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung aller Menschen fördert und fordert – unabhängig von ihrer sexuellen Orientierungen und ihres Geschlechts.

Aber trotzdem – mal ganz ehrlich – kommt denn eine 13jährige von alleine auf so was? Ich mache also erst mal Insta, TikTok und Facebook für den vermeintlichen Unsinn verantwortlich, so wie meine Mutter damals wahrscheinlich das Fernsehen für alles Mögliche verantwortlich gemacht hat. Das ist doch bestimmt bloß eine Modeerscheinung, bei der man sich die Geschlechtsidentität bzw. sexuelle Orientierung aus einer ganzen Palette an Regenbogen-Identitäten hübsch zu einem bunten Steckerperlenbild zusammensteckert. Schwul oder lesbisch, das existiert in meinem Hirn, aber non-binär? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie sich das anfühlt.

Ich konsultiere meine 19jährige Patentochter L. zum Thema. Kleinlaut vertraue ich ihr an, dass ich die Sache mit der non-binären Identität für einen von Insta-/TikTok produzierten Bullshit halte. Geduldig erklärt sie mir daraufhin, dass ihrer Meinung nach non-binäre junge Menschen im Internet endlich eine Erklärung dafür fänden, warum sie sich so anders fühlen, und es dadurch benennen können. Ich schäme mich. Dann wird wieder gegoogelt.

Das Trevor-Project

Belastbare Zahlen zum Prozentsatz der Bevölkerung, der sich selbst tatsächlich als non-binär bezeichnen, gibt es (noch) nicht, unter anderem deshalb, weil diese Gruppe bislang gänzlich unter transgender eingeordnet wurde.

Eine eindeutig belastbare internationale Mental Health Studie jedoch fördert zutage, dass non-binäre junge Menschen ein signifikant höheres Selbstmordrisiko haben: Das Trevor Project, das auch die weltweit größte Krisen- und Suizid-Telefonseelsorge für Jugendliche der LGBTQ-Community betreibt, hat herausgefunden, dass non-binäre junge Menschen viermal häufiger Selbstmord begehen. Das Suizid-Risiko sinkt deutlich, wenn sie zumindest in ihrer näheren Umgebung mit ihrem richtigen Namen und dem richtigen Pronomen angesprochen werden. Sicherlich kostet das Mühe und Zeit und ist eine große Umstellung, aber die Alternative ist schlicht indiskutabel. Deshalb hier mein Weihnachtswunsch an alle Eltern von Pubertierenden: Nehmen Sie es ernst, wenn Ihr Kind Ihnen etwas in dieser Richtung anvertraut, auch wenn Sie es erstmal nicht verstehen. Hören Sie zu und fragen Sie nach. Und als Weihnachtsgeschenk sei in diesem Falle folgendes Buch für Jugendliche und Eltern empfohlen, das so ziemlich alles Wissenswerte zum Thema enthält: „Queergestreift: Alles über LGBTIQA+“ von Kathrin Köller und Irmela Schautz

Im Folgeartikel „TikTok ist schuld! – Teil 2: Pubertät im Zeitalter von Social Media“ finden Sie eine weitere last minute Buchempfehlung für Eltern und Jugendliche zu Weihnachten.

 

1 Kommentare

Kommentare zum Blogartikel

23.12.2022

Gabriele Gürler

Ein sehr lesenswerter Beitrag zum aktuellen Thema! Bringt Licht ins Dunkel und sortiert die neuen Begriffe, die für mich bisher eher unverständlich waren. Es gibt eben mehr zwischen Himmel und Erde als ich angenommen hatte und als Mutter eines non binären Pubertiers halte ich Augen und Ohren offen! Danke!

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