Tot oder lebendig? Die Messung von Gesundheit mithilfe vo

In einem früheren Blogbeitrag habe ich in Frage gestellt, ob das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich wirklich so gut abschneidet, wie bisweilen behauptet wird. Das vorschnelle Fazit lautete: Schwer zu sagen, denn ein ganzes System ist sehr vielschichtig. Trotzdem deutet ein nüchterner Blick auf die Daten darauf hin, dass Deutschland nicht so weltspitze ist, wie vielfach angenommen.

Heute sollen erste Fakten folgen. Zuvor muss aber geklärt werden, welche Kriterien üblicherweise herangezogen werden, um ein Gesundheitssystem bzw. den Gesundheitszustand der darin integrierten Bevölkerung zu beurteilen.

Langlebigkeits-/Mortalitätsmaße als harte Endpunkte

Ein weit verbreiteter Ansatz liegt darin, auf Langlebigkeits- oder Mortalitätsmaße der Bevölkerung zurückzugreifen. Von diesen Statistiken gibt es eine ganze Reihe. Da sie sich konzeptionell aber sehr ähneln möchte ich dabei nur auf eine Auswahl eingehen. Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass sie leicht umzusetzen ist, denn die entsprechenden Werte sind in der amtlichen Statistik gut dokumentiert. In der Schlichtheit liegt jedoch gleichzeitig auch der große Nachteil: Tot oder lebendig, dazwischen gibt es nichts. Was in Western oder Krimis oft die entscheidende Frage darstellt, ist in der Langlebigkeits- und Mortalitätsstatistik die einzige Antwort, die man erhält. Gesundheit beschränkt sich somit auf diese zwei Zustände. Krankheiten und damit verbundene Schmerzen oder Mobilitätseinschränkungen werden dabei völlig ausgeblendet.

Lebenserwartung: Deutschland liegt genau im EU-Durchschnitt

Das am häufigsten herangezogene Kriterium bei den Langlebigkeitsmaßen ist die Lebenserwartung bei Geburt. Diese drückt aus, wie lange ein heute geborenes Baby voraussichtlich leben wird. In Deutschland lag die Prognose im Jahr 2016 bei 81 Jahren - und damit genau im EU-Mittel. Das sind rund zweieinhalb Jahre weniger als in Spanien oder Italien, aber gut sechs Jahre mehr als in Litauen. Und natürlich drückt der Wert nur den kollektiven Durchschnitt aus, schon zwischen den Geschlechtern treten bekanntermaßen beträchtliche Unterschiede auf.

Ein Problem der Lebenserwartung bei Geburt als Indikator für die Leistung eines Gesundheitssystems ist, dass ein langer Zeitraum abgebildet wird. In ihm spielen Einflüsse, die außerhalb des Gesundheitswesens liegen, eine große Rolle. (Un-)Gesunde Verhaltensweisen, berufliche Gesundheitsgefahren etc. verzerren dadurch den Zusammenhang. Schlicht ausgedrückt: Die Gesundheitsversorgung kann noch so gut sein, aber wenn das Volk raucht wie ein Schlot, dann ist trotzdem früher Schluss.

Säuglingssterblichkeit: Luft nach oben

Diese Schwäche ist bei einem anderen, auch häufig herangezogenen Gesundheitsindikator, der Säuglingssterblichkeit, deutlich geringer ausgeprägt. Individuelle Verhaltensunterschiede haben hier naturgemäß weniger Raum und der Einfluss des Gesundheitssystems ist dadurch leichter zu isolieren. Trotzdem verbleiben auch dabei Unschärfen, denn es ist offensichtlich, dass die Lebensumstände sowie das Verhalten und die Konstitution der Mutter während und nach der Schwangerschaft die Überlebenschancen des Nachwuchses beeinflussen. Die am häufigsten herangezogene Variante setzt hierbei die Zahl der Todesfälle von Kindern unter einem Jahr ins Verhältnis zu 1000 Lebendgeburten. In den letzten Jahrzehnten konnten hier starke Rückgänge beobachtet werden, allerdings verbleiben beträchtliche Unterschiede zwischen den Ländern. Deutschland lag im Jahr 2016 mit 3,4 Todesfällen leicht unter dem Durchschnitt in der EU von 3,6. Die Spitze bilden Finnland und Slowenien mit 1,9 bzw. 2,0, die rote Laterne geht an Rumänien mit 7,0.

Die größte Schwäche dieser Maßgröße ist, dass sie die Leistungen eines Gesundheitssystems nur sehr beschränkt abbilden kann, weil sich diese fast ausschließlich auf die Geburtshilfe und die Pädiatrie beschränken. Ob ein Land sehr gut im Umgang mit Alterskrankheiten ist, fällt bei dieser Kennzahl hinten runter.

Aussagekraft mit Vorsicht zu genießen

Wir stellen fest: Langlebigkeits- und Mortalitätsmaße können erste Anhaltspunkte für das Gesundheitsniveau einer Bevölkerung bieten, beschränken sich aber auf die Erfassung von nur zwei Zuständen (tot oder lebendig). Außerdem bilden sie weit mehr ab, als die reine Leistungsfähigkeit des zugrunde liegenden Gesundheitssystems. Dies wird momentan an den Vereinigten Staaten deutlich, wo die Lebenserwartung nach langen Jahren kontinuierlichen Anstiegs nun zum dritten Mal in Folge gesunken ist. Dieser Umstand wird in der Fachwelt auf einen angewachsenen Missbrauch gefährlicher Drogen sowie (allerdings in einem deutlich geringeren Umfang) auf eine gestiegene Selbstmordrate zurückgeführt. Beides Faktoren, die zumindest in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Ausgestaltung des Gesundheitssystems stehen.

Im nächsten Blogbeitrag dieser Serie soll der Blick auf Maßgrößen erweitert werden, welche - anders als die hier vorgestellten Mortalitätsmaße - unterschiedliche Gesundheitszustände abbilden können: die sogenannten Morbiditätsindikatoren.

1 Kommentare

Kommentare zum Blogartikel

15.11.2020

Prof. Dr.rer.pol. Hartwig Heyser

Herzlichen Dank für diesen sehr erhellenden Blog, lieber Herr Sutor. Vielleicht wäre neben dem Vergleich innerhalb Europas die Gruppe der OECD-Staaten bzw. das Ausweiten auf internationale/interkulturelle Ebene ganz interessant.

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