Unterschiedliche Dokumentation von Krankheiten sorgt für Verzerrungen im Krankenkassenfinanzausgleich

170.000 Ärzte steigern ambulante Diagnosen auf 2,2 Milliarden im Jahr.

Ein Großteil des milliardenschweren Finanzausgleichs der gesetzlichen Krankenkassen (Morbi-RSA) wird von rund 170 Tausend Ärzten mittels ambulanter Diagnosen gesteuert. Weil dieses Verfahren sehr manipulationsanfällig ist soll nun ein Gesetz die Ursachen der Beeinflussung reduzieren. Nach Einschätzung des BKK Landesverbandes Bayern geht die aktuelle Gesetzesinitiative in die richtige Richtung, reicht aber nicht aus, weil nach wie vor Schlupflöcher bestehen. Auf Basis aktueller Zahlen fordert Sigrid König, Vorständin des BKK Landesverbandes Bayern, den Gesetzgeber auf, den Einsatz von ambulanten Diagnosen als Verteilungsmaßstab für den Morbi-RSA zu hinterfragen:

„Wir werden 170 Tausend Ärzte in Deutschland nicht dazu bringen, dass sie in vergleichbarer Weise kodieren. So, wie wir in der ärztlichen Behandlungskunst Freiheiten zulassen, so gibt es auch bei der Kodierung von Diagnosen große Unterschiede. Da die Geldverteilungsmaschine Morbi-RSA an ambulante Diagnosen geknüpft ist, lädt sie Krankenkassen geradezu ein, den einzelnen Arzt zu motivieren, ambulante Diagnosen zu beeinflussen. Dies ist der große Webfehler des Morbi-RSA, der dringend einer wissenschaftlichen Untersuchung und Korrektur bedarf.“

Die bayerische BKK-Chefin beruft sich auf eine Auswertung der dokumentierten Diagnosen von rund 12 Millionen Versicherten der Betriebskrankenkassen (BKK) aus dem Jahr 2015 (letztes, vollständiges verfügbares Jahr). Bei den als „gesichert“ gekennzeichneten Diagnosen, welche die Basis für den Ausgleich im Morbi-RSA bilden, ist Bayern mit einem Anteil von 88 Prozent Schlusslicht. Sachsen-Anhalt stellt dagegen mit 95 Prozent den Spitzenwert. Alle anderen Bundesländer liegen bei 90 Prozent und darüber; im Osten der Republik fängt der Schwellenwert erst bei 92 Prozent an.

Zudem trägt der aktuelle Morbi-RSA dazu bei, dass die Zahl an Diagnosen massiv ansteigt – zum Nachteil der Versicherten. Seit 2008 bis 2015 nahm die Zahl der im Morbi-RSA relevanten ambulanten Diagnosen um rund 41 Prozent zu. Im Jahr 2015 wurden insgesamt 2,2 Milliarden Diagnosen in Deutschlands Arztpraxen bei den gesetzlich Versicherten dokumentiert. Dadurch werden nicht nur Millionen an Beitragsgeldern verschoben, sondern auch die Versicherten auf dem Papier kränker gemacht. Von den dokumentierten Krankheiten wissen viele Versicherte nichts, sie werden aber zum Beispiel beim Abschluss einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung zum Problem.

Weil die Diagnosestellung im Ermessensspielraum der Ärzte hängt, bleiben strukturelle Unterschiede auch nach einem Abbau von Manipulationsanreizen bestehen. Sigrid König: „Der Morbi-RSA ist durch die Vielzahl an ambulanten Diagnosen und Akteuren fehleranfällig und wettbewerbsverzerrend. Wir sollten die aktuelle Diskussion um die ambulanten Diagnosen als politische Chance für die Suche nach manipulationsresistenten alternativen Bewertungskriterien im Morbi-RSA begreifen. Zudem können wir gewaltig Bürokratie abbauen, wenn wir auf ambulante Diagnosen im Morbi-RSA verzichten.“

Bislang handeln die Ärzte weitgehend frei bei der Kodierung von Krankheiten. Auf Kodierrichtlinien, wie sie im Krankenhaus üblich sind, können Deutschlands 170 Tausend Ärzte nicht zurückgreifen. König ist gleichwohl überzeugt, dass auch eine Einführung von Kodier-Richtlinien im ambulanten Bereich den grundsätzlichen Webfehler nicht lösen wird.

Hintergrund:

Am kommenden Montag, 13. Februar 2017, wird im Rahmen der Anhörungen zum Heil- und Hilfsmittel-Versorgungsstärkungsgesetz auch über Änderungsanträge zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA beraten. Konkret geht es dabei unter anderem um die Möglichkeiten der Beeinflussung von ambulanten Diagnosen durch Krankenkassen, die mit dem Gesetz unterbunden werden sollen. Auslöser dieser Initiative sind Manipulationsvorwürfe verschiedener Kassenarten.

Viele der Morbi-RSA relevanten Diagnosen entfallen auf so genannte Volkskrankheiten. Diese lassen enorme Interpretationsspielräume bei der Kodierung zu. Deshalb fordert der BKK Landesverband Bayern eine stärkere Hinwendung zu harten Faktoren im Morbi-RSA, die in Arzneimittelverschreibungen oder Krankenhausdiagnosen zum Ausdruck kommen. Als Sofortmaßnahme sollten statt der Volkskrankheiten seltenere, aber teurere Krankheiten für den Morbi-RSA relevant sein.

Der BKK Landesverband Bayern vertritt als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Interessen der Betriebskrankenkassen und ihren Versicherten in Bayern. Aktuell zählt der BKK Landesverband Bayern 16 Betriebskrankenkassen als Mitglieder mit über 3 Millionen Versicherten (Kassensitz). In Bayern selbst leben rund 2,35 Millionen Menschen, die bei einer Betriebskrankenkasse versichert sind. Damit verfügen die Betriebskrankenkassen im Freistaat über einen Marktanteil von rund 22 Prozent.