Vorschau aus 10 Jahren Rückschau Morbi-RSA: Lernkurve im Krankenkassenfinanzausgleich jetzt nutzen!

Vor 10 Jahren wurde der Morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) aufgebaut mit dem Ziel, die Finanzierung der Krankenkassen an das Krankheitsgeschehen der Bevölkerung zu knüpfen. Analysen des BKK Landesverbandes Bayern zeigen, dass die Zahl der dokumentierten Krankheiten seitdem enorm gestiegen ist.

Die Versicherten werden auf dem Papier immer kränker!

Ein wesentliches Grundübel des Morbi-RSA bleibt – neben vielen bekannten anderen Schwachstellen - die Anfälligkeit für Manipulationen, stellt Sigrid König, Vorständin des BKK Landesverbandes Bayern, fest: „Der Bundesgesundheitsminister zeigt, dass er entschlossen und dynamisch die Baustellen im Gesundheitswesen anpackt. Ich wünsche mir, dass er bei der Reform des Morbi-RSA seinen Mut bewahrt und die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenkassen grundlegend reformiert. Das Motto der Morbi-RSA-Reform muss lauten: Keine Stellschrauben für Manipulationen, gleiche Wettbewerbschancen für alle Krankenkassen.“

Die dokumentierten Krankheiten sind mit Einführung des Morbi-RSA explodiert: Im Jahr 2008 wurden für die GKV-Versicherten rund 1,77 Milliarden Diagnosen dokumentiert. Bis 2016 (zuletzt verfügbares Jahr) stieg die Anzahl der Diagnosen um 27 Prozent auf 2,25 Milliarden. Die gesicherten Diagnosen, die letztlich für die Berechnung der Zuweisungen für den Morbi-RSA herangezogen werden, stiegen nach dem ersten Jahr der Einführung des Morbi-RSA noch stärker um 32 Prozent auf 2,05 Milliarden im Jahr 2016.

Sigrid König: „In der Rückschau stellen wir auf Basis von 80 Krankheitsgruppen bereits enorme Manipulationen und eine Explosion der Diagnosen fest. In der Vorschau müssen wir davon ausgehen, dass eine derzeit diskutierte Ausweitung des Morbi-RSA auf alle Krankheiten die Entwicklung verschlimmert. Ohne eine grundlegende Reform bleibt der Morbi-RSA weiterhin stark manipulativ und begünstigt einzelne Kassenarten. Der Gesetzgeber muss hier schnell und rigide handeln, wenn ihm eine gerechte Finanzierung der Krankenkassen und ihrer Versichertengemeinschaften am Herzen liegt.“

Möglichkeiten, die Manipulationsfelder in den Griff zu bekommen, konnte auch das Heil- und Hilfsmittelgesetz nicht schließen. So können Krankenkassen, die über die entsprechende Marktmacht und Mitarbeiterkapazitäten verfügen, weiterhin Ärzte in ihren Praxen besuchen. Was dort besprochen wird, ist eine Blackbox. Überdies bleiben Manipulationen der Vergangenheit weitgehend folgenlos. Dabei haben einige Kassenarten vermutlich hunderte Millionen Euro an Vermögen zulasten anderer aufgebaut. Die bayerische BKK-Chefin fordert deshalb, diese Fehlverteilung von Versichertengeldern auch rückwirkend komplett zu bereinigen.

Hintergrund:

Im Sommer 2008 warnte der BKK Landesverband Bayern erstmals vor den massiven Folgen des Morbi-RSA: Der Finanzausgleich werde anfälliger für Manipulationen und die Diagnosen der Versicherten werden in die Höhe schnellen. 'Krankenkassen profitieren, wenn sie viele Kranke versichern und krank erhalten. Anreize, Versicherte gesund zu erhalten, werden gegen Null gehen', kann aus der BKK-Presseinfo vom Juli 2008 zitiert werden. Der Wettlauf der Krankenkassen, möglichst viele Diagnosen zu sammeln, ist vom Start an im Jahr 2009 zum Problem geworden. Deutschlands Versicherte werden auf dem Papier stetig kränker.

Mit dem Versichertenentlastungsgesetz (GKV-VEG) ist eine Reform des Morbi-RSA geplant. Aktuell werden manipulationsanfällige Volkskrankheiten zu stark berücksichtigt. Dagegen werden Krankenkassen mit der Finanzierung teurer Akutfälle und seltener, aber kostenintensiver Erkrankungen allein gelassen. Wissenschaftler warnten schon bei der Einführung des Morbi-RSA vor den Folgen, die Häufigkeit von Krankheiten (Prävalenz) zu stark bei der Krankheitsauswahl zu gewichten. Eine Studie des IGES-Instituts aus dem Jahr 2015 untermauert diese Forderung. Die Wissenschaftler empfehlen, die Gewichtung der Krankheitshäufigkeit im Morbi-RSA zugunsten der Schwere von Erkrankungen zu ändern. Im Fachterminus spricht man von einer logarithmischen Prävalenzgewichtung.

Bei der Kodierung von Krankheiten sind die Spielräume für Ärzte nach wie vor enorm. So sind seit Einführung des Morbi-RSA bei interpretationsfähigen Krankheiten enorme Steigerungsraten Realität: Beispielsweise nahm im Zeitraum 2011 bis 2014 die Diagnose 'Adipositas mit Krankheitsbezug' um 80 Prozent zu, die Indikation 'Chronischer Schmerz' stieg um 60 Prozent, ‚Angst- und Zwangsspektrumsstörungen stiegen um 22 Prozent und Depressionen nahmen in den drei Jahren um 15 Prozent zu.